Freitag, 10. August 2001


Es ist nicht wirklich kühler als gestern, von Regen keine Spur. Ich pilger' am Broadway entlang zum Lincoln Center, um vor allem die Metropolitan Opera zu sehen. Danach klappere ich Platten- und DVD-Läden ab und schreibe Postkarten. 

Mein Pflichtprogramm habe ich absolviert und zwei Museen will ich mir für morgen aufheben. Was liegt näher, als noch einmal mein Glück im Central Park zu versuchen. Um 14.30 Uhr stehe ich in der stand-by line, die jetzt unter den Bäumen startet, wo bereits die Nachtschlange seit fast drei Wochen den Rasen strapaziert. Vor mir sind zwei amerikanische Sunnygirls mit Campingstühlen und - wie sich bei den ersten Regentropfen herausstellt - Plastikplanen gut vorbereitet. Zwei österreichische Frauen halten nicht lange durch, so daß ich bald der Dritte bin. Ein pummeliges Mädchen kommt dazu und setzt sich auf den letzten trockenen Stein vor mir: "I'm sitting on the stone that is in front of you but I'm still behind you, okay?" Sie hat bislang dreimal erfolglos angestanden und das mag der Grund sein, warum sie die Reihenfolge bald vergißt. Ich bin also nur noch vierter. Vor dem Regen flüchten wir immer öfter unter die Büsche; ohne echten Erfolg. Ich frage die anderen, ob wir nicht fragen sollen, ob die Schlange unter das Vordach des Delacorte ins Trockene umziehen darf und wende mich dann mit unserem Wunsch an einen der Grünhemdträger. Der kann die Entscheidung nicht alleine treffen, meint aber nach einem Telefonat, wir könnten umziehen, aber mit dem Risiko, unseren Platz in der Schlange zu verlieren, deren offizieller Platz draußen im Regen bleiben wird. Da müssen wir also durch und die Shakespeare-Schirme sind leider ausverkauft. Neben mir wartet ein Jurist, der im World Trade Center arbeitet und gerade für seine Firma, die Milliarden in die chinesische Infrastruktur investiert, sechs Monate in Peking verbracht hat. Deutsche hält er für pünktlich, fleißig und zuverlässig und er will wissen, ob die Euro-Angst noch umgeht und wie die Folgen der Wiedervereinigung sich heute darstellen. Als der Regen zunimmt, bauen die Mädels und das Pummelchen ein Zelt mit ihrer Plane. Das Elend kann ich nicht mit ansehen und ich breche einen Zweig als Zeltstange. Die Einladung, mit drunterzukriechen, ist trotz der Attraktivität der Gastgeberinnen nicht wirklich verlockend, da der Boden wegschwimmt. Stattdessen lasse ich mir versprechen, daß man mich in einer halben Stunde noch wiedererkennt, lege mich nach einer Taxifahrt im Hotel trocken und komme mit regensicheren Klamotten zurück. Die Schlange ist zwischenzeitlich merklich gewachsen, aber meinen Platz habe ich behalten. Um die Zeit zu verkürzen, kaufe ich mir die Neuübersetzung der Möwe von Tom Stoppard, die Mike Nichols seiner Inszenierung zugrundegelegt hat. Diese Sonderauflage für das Public Theater enthält eine komplette Besetzungsliste und einen aufschlußreichen Aufsatz von Stoppard über seine Abweichungen von den bisherigen englischen Übersetzungen: 

Die zeltenden Sonnenscheins wollen nicht glauben, daß Natalie auf einem Pferd ins Stück geritten kommt, nicht einmal, als mein Nachbar und ich aus dem Skript zitieren und wir auf den Pferdetrailer vor der Theatereinfahrt verweisen. Man vertreibt sich das Warten mit Geschichten von Pummelchens bevorstehender Hochzeit und einer selbstgeschriebenen Kurzgeschichte. Zwischendurch spielt das brunette, sommersprossige Mädchen aus dem Trio im naheliegenden Waschraum Natalies WTHI-Fußwaschszene bei offener Türe nach, bevor sie in ihren Hotpants und Flipflops genauso schlammverspritzt wie vorher unter die Plane zurückkriecht. Unsere Camperinnen verpassen den großen, schwarzen S-Klasse-Mercedes, der Meryl Streep, Natalie Portman und Marcia Gay Harden bringt. Der Fahrer aus Florida, der sich gegen 16.00 Uhr mit einem Behindertenausweis an der Frontscheibe in seinem Auto (!) in der stand-by line angestellt hatte, hat da schon mehr Aufsehen erregt. Die Parkpolizisten haben ihn weggejagt. Gegen 18.30 Uhr sammeln sich neben uns die voucher people... wie schnell die Zeit vergeht. Ein paar Findige hinter uns haben sich die Singles aus der Gruppe ausgeguckt und ergattern auf diese Weise die zweite Karte, die der voucher hergibt. Hinter mir verkauft jemand seine überzählige Karte für $10. Wir sind uns mittlerweile sicher, daß wir Karten bekommen, unken aber, daß uns der Regen, der die Sponsoren ihre Tickets canceln läßt, einen Strich durch die Rechnung machen wird. An zuständiger Stelle scheinen unsere Stoßgebete jedoch erhört zu werden, denn gegen 19.00 Uhr tröpfelt es nur noch leicht von den nassen Parkbäumen herunter. Es hat aufgehört zu regnen. Gegen 19.40 Uhr sind fast alle voucher bedient. Eine ältere Dame tritt auf meinen Nachbarn und mich zu und zeigt uns zwei Karten: "Look, I have these two tickets for tonight but no time to attend. Would you like them?" - "We would love them! That is very, very nice you ma'am! Thank you very much!" Ein Blick auf die Tickets sagt mir, daß sie ziemlich weit am Rand liegen und ich bedeute meinem Nachbarn, sie erstmal einzustecken und unsere stand-by tickets abzuwarten. Die kommen fünf Minuten später und liegen wie am Sonntag in Section J, also in der Mitte. Ich bekomme nicht mit, wem mein Nachbar sein geschenktes Ticket vermacht, ich jedenfalls gehe weiter nach hinten in unsere Schlange und frage: "Any singles?" - Ungläubige Gesichter. - "I mean, it's free." - Ein Mädchen hüpft und winkt ("Yessss, me!") und hüpft und winkt dann noch mehr ("HAH, see you tonite, guys!"), vergißt in der Aufregung aber das Danke.

Zum zweiten Mal im Halbrund, diesmal etwas weiter oben in der Mitte, in der Nähe der Ton- und Lichtregie. Der Jurist sitzt links, das Pummelchen rechts neben mir, neben ihr das dunkelhaarige Mädchen, das wenig später Freunde im Block links von uns entdeckt. "Wait, isn't that the barkeeper guy from 'Felicity'?" Jup, ist er offensichtlich und sie kennt ihn, zumindest rückt sie ihm auf die Pelle. Der Soap-Opera-Star wird dann vom Management umgesetzt in den VIP-Block acht Meter vor uns. "They took him away to his celebrity friends to protect him from weirdos like me", sagt das dunkelhaarige Mädchen. Er sitzt nach der Rettungsaktion sogar zwei Reihen vor Mr. Laurence Fishburne and fiancé und Mr. Steve Martin! Die beiden sehen live genauso aus, wie im Film. Mr. Fishburne gibt Autogramme. Steve Martin kommt mit einer häßlichen, orangen Basecap. Beide werden bewacht von diesem Herrn. Vor uns läßt sich ein Künstlertyp mit Fastglatze und Ohrring nieder, der Sitzkissen dabei hat. Die alte Dame neben ihm erkennt messerscharf: "Oh, you are prepared. You knew what to expect." Das Sitzkissen wird allerdings schnell auf dem leeren Platz des entführten Barkeepers aufgeschlagen, denn von dort aus sieht man noch besser. 

Ansage, Applaus, stimmungsvolle Abendsonne, Akkordeon.

Die Aufführung ist insgesamt so traumhaft wie am Sonntag, mit einigen Unterschieden. Mike Nichols hat entweder Teile des Textes noch einmal überarbeitet, oder die Schauspieler haben sich Freiheiten genommen. Die Momente, in denen Arkadina ihre Mitmenschen manipuliert und beeinflußt, um das zu erreichen, was sie will, spielt Meryl Streep nicht mehr so plakativ, bis auf die Szene mit Kevin Kline am Boden. Diesmal endet sie rittlings auf ihm und läßt das Becken kreisen, während sie dem willenlos gemachten Trigorin heiser anbietet: "Well, stay if you want to. I'll go and you can come on later in a week or so, there's no hurry." Weltklasse! Das Zusammenspiel in den Gruppenszenen wirkt dieses Mal nicht ganz so flüssig wie am Sonntag, vor allem zu Beginn in der Szene, die zum Abbruch von Konstantins Aufführung führt. Der Glatzkopf mit dem Sitzkissen belehrt uns in der Pause: "They all are brilliant in their roles, it just seems they are not acting in the same play. I know what I'm talking about. I'm a playwright." Ich bin von Künstlern umzingelt! Dafür ist Natalie in jeder Beziehung in Hochform. Konstantins wirre Zeilen trägt sie noch pointierter und mit noch mehr Ernst und Inbrunst vor. Diese Stimme! Die unfreiwillige Komik des Stücks im Stück provoziert wieder eine Unmenge Lacher. Für Momente scheint es Probleme mit Natalies Mikro-Headset zu geben, dann setzt ihre Stimme für Sekundenbruchteile aus. Nach etwas Hektik hinter uns in der Regie ist das behoben. In der Hängematte und dem ganzen Rest bis zum Schluß des dritten Aktes ist es einfach eine Wonne, Natalie beim Spielen zuzuschauen. Im Vergleich zum letzten Mal scheint sie noch mehr "drin" zu sein. Niemals in meinem Leben möchte ich mit einer Frau in eine Situation wie Konstantin geraten, der mit seinem Tote-Möwe-Geschenk so gnadenlos aufläuft bei Natalie/Nina. Ihre Ratlosigkeit und seine Verzweiflung in dieser Szene sind diesmal ein echter Vorgeschmack auf den vierten Akt. Während Trigorins langer Monologe über den Ruhm, der keiner ist, werde ich an ein Interview zu Léon erinnert. Jean Reno hatte Natalie damals erklärt, daß sie ihrem Partner bei der Arbeit helfen kann, indem sie ihre Rolle weiter spielt, auch wenn die Kamera nicht auf sie, sondern auf ihn gerichtet ist. Ihre Nina hängt Trigorin als aufmerksame Zuhörerin an den Lippen. Es macht Spaß ihr zuzugucken, selbst wenn sie passiv spielt. Ich bin froh, daß ich in dieser Lage mein kleines Fernglas dabeihabe, um ihre Mimik zu sehen; mein Nachbar auch, er ist für Meryl hier. Zum Schluß hält Kevin Kline wieder Natalies "Brötchen" in der Hand und ihre Beine baumeln in der Luft; auch das kommt bekannt vor aus Léon. Im vierten Akt beseitigt Natalie dann für mich alle Zweifel, ob sie das hohe Niveau der "Megastars" halten kann. Es stimmt einfach alles. Kein Zittern mehr nach dem Kachelofen. Sie wirkt ganz konzentriert, selbst wenn Nina den Faden verliert. Die Verzweiflung scheint diesmal aus tiefster Seele zu kommen, als Nina Konstantin erklärt, wie sehr es sie quälte, auf der Bühne zu stehen und zu wissen, wie schlecht sie spielt, bevor sie ihr Selbstvertrauen wiederfand. Ich habe den Eindruck, Natalies Privatstudien über Tschechow haben sich gelohnt. Nach dessen erklärtem Willen ist Nina die Möwe, deren Leben Trigorin ruiniert, weil er nichts besseres zu tun hat. Der Text allerdings läßt Deutungs- und Gestaltungsspielraum. Natalies Nina überlebt die Abgründe, in die Trigorin sie gestoßen hat, trotz der Aussicht, bis ans Ende ihrer Tage an drittklassigen Provinztheatern spielen zu müssen und nie den Status zu erreichen, auf den alle auf Sorins Landgut so viel Wert legen. Sie erklärt Konstantin, daß es nicht darauf ankommt, von Ruhm und Glanz zu träumen, sondern auf das Durchhaltevermögen als Künstler und Selbstvertrauen, egal was kommen mag. Diese Erkenntnis hat das anfangs von allen belächelte Mädchen zum Schluß nicht nur Konstantin, sondern auch dem Rest der dekadenten Landgesellschaft voraus. Keiner von denen ist im Verlauf des Stücks einem vergleichbaren Schicksal ausgeliefert und zeigt eine solche Stärke. Konstantin erschießt sich wegen weniger. In Mike Nichols' Inszenierung nach der Neuübersetzung von Tom Stoppard ist das Stück heiterer, als ich nach der Lektüre der deutschen und meiner ausgedruckten englischen Übersetzung erwartet hätte, ohne daß die von Tschechow geschilderte Beziehungschemie verwässert würde. Mir gefällt Die Möwe, wie ich sie an zwei Tagen im Central Park gesehen habe und das Drumherum war schlicht grandios!




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