Sonntag, 5. August 2001


Abflug: 10:30, Airbus A340-300 der Deutschen Lufthansa, Economy Class.
Meine Sitznachbarin ist blond, sympatisch aber plauderfreudig: "Bist Du auch DAAD-Stipendiat?" - Seh' ich so aus oder ist das nur ein eleganter Hinweis auf ihre exzellenten Noten? Sie war schonmal in den USA, für ein Jahr in einem Musikinternat in Massachusetts und dann auf Konzertreisen. Ich frage nicht nach, tippe aber auf Geige bei Jugend musiziert. Vor kurzem hat sie ihr erstes Staatsexamen in Jura gemacht, offenbar mit überdurchschnittlichem Erfolg. Wir kennen beide ein paar ihrer Professoren. Die kommenden zehn Monate wird sie an der New York University mitten in Greenwich Village verbringen, ihren LLM (Master of Law) machen und nach einem Thema für ihre Doktorarbeit suchen. Für ihr zehn Quadratmeter großes Zimmerchen in einer Dreier-WG zahlt sie $1200 im Monat. Bei der Nennung der Studiengebühren, von denen der Akademische Austauschdienst nur einen Teil übernimmt, gerät mir der Lufthansa-Tomatensaft in die Luftröhre.

Der Rest der achteinhalb Stunden besteht aus tollen Ausblicken auf Schottland und Irland, Ashley Judd in 'Männerpension', einem sich ständig selbst abschaltenden Bordunterhaltungsprogramm, einem deshalb sichtlich nervöse Purser und einer sich wiederholt in den Einwanderungspapieren verschreibenden Sitznachbarin. Und ich schaffe die ersten drei Akte der Möwe auf englisch.

Touchdown um 12.12 Uhr Ortszeit in Newark, New Jersey. Schlange stehen vor den Einwanderungsschaltern. "Passengers who have visited a farm or have soiled shoes are requested to see an Agricultural Officer", diktiert die amerikanische Panik vor BSE und der Maul- und Klauenseuche. Daß "have a nice day" nicht mehr als eine Floskel ist, beweist das versteinerte Gesicht meines Immigration Officer.

Vor die Hoteldusche hat der Herr den Shuttlebus gesetzt. Allerdings heißt es am Ground Transportion Counter auf einmal, mein voucher gelte nicht für Fahrten nach Manhattan jenseits der 63. Straße. Die Hotlinelady von Express Shuttle USA gibt sich ratlos und erst die Ablösung in Gestalt einer kräftigen jungen Dame klärt meinen zuständigen Uniformträger über die richtige Bedienung seines Computers auf. Kurz darauf sorgt ein eiliger Fahrer dafür, daß ich meiner Sitznachbarin nur noch durch Winken einen schönen Aufenthalt wünschen kann. Mit von der Partie in dem klapprigen aber klimatisierten Kleinbus sind drei Pärchen im gesetzten Alter. Die Briten neben mir freuen sich genauso über den ersten Blick auf Downtown Manhattan, wie ich. Die Route führt uns durch den kostenpflichtigen Holland-Tunnel und über für deutsche Verhältnisse extrem schlecht geflasterte Straßen zunächst zu einem Pier am Hudson River, von dem aus die ganz großen Ozeandampfer zu Kreuzfahrten ablegen. Dem Pärchen, das hier aussteigt, hätte ich soviel Geld nicht zugetraut. Der nächste Halt gilt meinem Hotel. Der Hooligan am Steuer bekommt meinen ersten New Yorker tip.

Ella an der Rezeption merkt an, daß meine Geldscheine alle ziemlich neu aussehen und sorgt dafür, daß mein 24-Kilo-Koffer in den vierten Stock geschleppt wird. Dusche! Auf den Gängen mollig warm, im Zimmer eisig kalt dank air condition. Ich meine, meinen Atem sehen zu können. Der erste Blick aus dem Fenster ist eher ernüchternd, ein Zap durch die 125 Fernsehkanäle auch. Nach einer Woche werde ich zwei "Lieblingskanäle" haben: Den TV Guide Channel, der in der oberen Bildhälfte nur Werbung und in der unteren das Fernsehprogramm aller anderen 124 Kanäle im Dauerdurchlauf bietet, und den Weather Channel, der rund um die Uhr nichts anderes bringt als Wetter, Wetter, Werbung und Wetter.

.
Abgeschaltet, Kameratasche gepackt, Schlüssel zu Ella und raus auf die Amsterdam Avenue zur ersten Erkundungstour. Der Broadway ist einen Block entfernt und hier gibt es offensichtlich alles, was man zum Überleben braucht. Ich bilde mir ein, das American Museum of Natural History gleich am ersten Nachmittag erledigen zu können und folge daher der 76. Straße, vorbei an einem riesigen WTHI-Flohmarkt in Richtung Central Park West. Vor dem Museum fallen mir zum ersten Mal die Straßenverkäufer auf, die neben Hotdogs und Bretzeln Eis und Getränke verkaufen. Hier mache ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem 24OZ SportPack Poland Spring. Das eisgekühlte Wasser aus Maine gibt es unter anderem in der praktischen "Nuckelflasche", kostet je nach neighbourhood zwischen $1.25 und $2 und wird mich in der folgenden Woche vor dem Verdursten bewahren.

Die Schlangen im American Museum of Natural History sind sonntaglang und so müssen Photos der Fassade und des Hayden Planetarium auf der Rückseite zunächst reichen. Ein paar Schritte weiter befindet sich der Eingang zum Central Park, 81. Straße, und ich beschließe, das Terrain zu erkunden, wo ich nach meiner Planung Dienstagnacht in der Warteschlange für Karten zu Tschechows Die Möwe auf einer Luftmatratze verbringen werde. Das erste, was auffällt, als ich mich über lauschige Parkwege dem Holzrund des Delacorte Theater nähere, ist das große SOLD OUT-Schild über der Kasse. Dort befragt ein Pärchen gerade die Zuständigen nach Karten und es ist die Rede von stand-by tickets, für die sich die Schlange "in about two hours" bildet; es ist kurz nach 16.00 Uhr.

Ich habe Hunger und verdrücke mich nach ein paar Photos vorübergehend in Richtung Parkausgang und Columbus Avenue. Einen Bagel später ist klar, daß ich für heute zu müde bin, um noch großartig rumzukommen, also marschiere ich zurück, für eine letzte Erkundung des Central Park an diesem Abend, wie ich meine. Auf dem Weg nach Belvedere Castle, keine 50 Meter vom Delacorte Theater entfernt, fällt mir eine kleine Menschenschlange auf. "This the stand-by line?" Das Mädel ganz vorne auf der Isomatte nickt. Ich lasse mich als circa fünfunddreißigster hinter einer schwarzen Lady mit Campingstuhl nieder. Kurz darauf kommen ein jüngerer Kerl, eine ältere Dame und bald immer mehr Leute hinzu. Zu diesem Zeitpunkt, kurz nach fünf, gehe ich nicht davon aus, daß diese Schlange mehr ist als ein untauglicher Versuch Verzweifelter, an Karten zu kommen. Das Gefühl, kurz nach meiner Ankunft in New York in einer Seagull-Schlange zu hocken, ist trotzdem erhebend und für sonstige Aktivitäten fehlt mir ohnehin die Energie. Ich bleibe deshalb sitzen, an einen Jägerzaun und Rosenzweige gelehnt, nuckle Poland Spring, höre meinem Nachbarn beim Pfeifen zu - er hält erstaunlich genau die Melodie - und kritzel meine bisherigen Impressionen mangels Papier hinten in den Reiseführer. Zwischendurch werden wir von einem Parkwächter vom Randstein gejagt: "Don't sit on the flowers!"

Ein Mädchen Mitte 20, dunkler Zopf und Jeansrock, stellt sich wenig später als Delacorte-Angestellte vor und erklärt uns die Regeln fürs Anstehen: Niemand kann für andere einen Platz freihalten, dies ist lediglich die stand-by line, heute mittag sind an diejenigen aus der richtigen Schlange, die seit gestern abend oder heute nacht gewartet haben und keine Karten mehr erhielten, 50 Gutscheine ausgeteilt worden, die zum Bezug von bis zu zwei stand-by tickets berechtigen, wenn zwei Personen damit gleich um halb sieben auftauchen. Erst wenn diese voucher line bedient ist, haben wir eine Chance. Kommen voucher people zu spät, müssen sie sich hinter uns anstellen. Das Kartenteam wird mehrfach mit Karten kommen, so oft welche von Sponsoren zurückgegeben werden. Wir sollen also nicht aufgeben, wenn wir zunächst leer ausgehen. Irgendwelche Fragen? - Ja, zehn Plätze vor mir will man wissen, ob wir eine Chance haben. "Ich kann überhaupt keine Prognose abgeben. Die Zahl der stand-by tickets hängt von vielen Faktoren ab. Gestern, Samstag, hatten wir Regenwarnung, weshalb viele der Sponsoren Tickets zurückgegeben haben und wir sowohl die voucher line als auch die stand-by line vollständig bedienen konnten. Wenn ich da sitzen würde, wo Ihr sitzt, würde ich nicht weggehen." Das hört sich doch nicht schlecht an. Oder will sie nur unsere Nerven schonen? Nachdem ich die schlimmen Geschichten über "line nazis" gehört habe, bin ich positiv überrascht über den freundlichen Ton und die Geduld unserer "Aufseherin". Sie kommt dann alle 30 Minuten zurück, um das ständig wachsende Ende der Schlange ins Bild zu setzen und Fragen zu beantworten. Unter Gelächter weggeschickt wird allerdings das Mädchen vom Verkaufsstand, das uns für teures Geld Shakespeare-Spielkarten und das Stoppard-Originalskript für $12 andrehen will: "Komm' wieder, wenn Du Karten hast!"

Unterdessen bin ich mit meinem Hintermann ins Gespräch gekommen, der aus der Türkei stammt, seit sechs Jahren in den USA lebt, vor kurzem in Boston seine Ausbildung zum Operntenor abgeschlossen hat und eine Woche wegen Anwaltsterminen in Visaangelegenheiten in der Stadt verbringt. Seine Freunde haben ihm gesagt, Karten für The Seagull zu bekommen, sei unmöglich, so hat er es bisher erst gar nicht versucht. Dies ist sein letzter Abend in der Stadt und er hatte nichts besseres zu tun. Er spielt im übrigen mit dem Gedanken, für einen Karrierestart nach Deutschland zu kommen, weil es nirgendwo so viele kleine Bühnen gibt wie hier, die halbwegs anständig bezahlen und Nachwuchskünstlern eine Chance geben. Er spricht sogar etwas Deutsch.

Ab 18.30 Uhr sammeln sich die voucher people und kurz darauf gibt es unter tosendem Applaus die ersten Tickets für die Glücklichen. Das Häufchen wird immer kleiner und irgendwann werden wir aufgefordert, eine Zweierreihe zu bilden und aufzurücken. Die Stimmung steigt. Nach dem letzten Kartenstoß bin ich achter in der Schlange! Während wir auf die Wiederkehr der Ticket-Lady warten, fällt mir halbrechts auf den Stufen nach Belvedere Castle ein NPMB-T-Shirt ins Auge. Der Kerl, der drinsteckt, kommt mir bekannt vor und bei ihm stehen zwei andere, die ich nicht kenne: Jutze, AvE und Scarlet (SPimpernell aus dem NPMB). Da die drei sich auf's Bleiben einzurichten und nicht wegzulaufen scheinen, beschließe ich, mich zunächst um meine Karten zu kümmern und mich später vorzustellen. Spätestens am nächsten Morgen würde ich AvE und Jutze eh' treffen, wenn die beiden unsere Verabredung nicht vergessen haben.

Von weiter hinten in der Schlange war eine Dame, die Woody Allens Schwester hätte sein können, auf die Toilette gerannt. Sie kommt nun, als vor uns Tickets verteilt werden, zurückgelaufen und ruft: "I was in front of you!" - Lauter Protest und Daumen, die nach hinten zeigen. - "Okay, don't get mad at me. I didn't want to cut in. I thought you guys were behind me." - Preisverdächtig! She was desperate to get in!

Um 19.15 Uhr kommt das Glück auch über uns. Schmetterlinge im Bauch, als ich nach gerade mal zwei Stunden Wartezeit meine Karte in Händen halte! Mein Hintermann und ich sitzen nebeneinander, Section J, Row M. Nach meinem Marsch und dem Warten klebt mir das Hemd am Leib und ich verabschiede mich für eine schnelle Dusche in mein Hotel. Zum nahen Parkausgang gejoggt. Taxi! Meine erste Fahrt in einem Yellow Cab; ein Tag der Premieren. Wer sich nicht sofort anschnallt, wird von hinten im Ghetto-Slang von einer Lautsprecherstimme beschallt, die verdächtig an das Go-Go-Gadget-Mobil erinnert: "Hi, this is ??? to remind you to fasten your seatbelt for a safe ride!" $5 für die Hinfahrt, schnelle Dusche und $5 für die Fahrt zurück. An der Ampel am Parkeingang spricht mich ein Mann an und fragt nach dem Weg zum Delacorte. "It's down there, just follow me... you have a ticket?" - "Yesss!" - "Me too, and tell you what, I just arrived from Europe." - "Tell you what, I just arrived from Chicago. In fact, I'm an actor and I work with Larry Pine and that's why I'm here." - "Oh, what role does he play today?" - "I have no idea." - "Probably some russian guy." - "Exactly. You sure this is the right way to the theater?" - "Ya, just follow the german guy." - Kurz vor dem Theater wird er von irgendjemandem in Empfang genommen und dahin ist meine Chance, heute noch backstage zu kommen.

Ich bin pünktlich an Gate 2. "Remember to hold onto your ticket stubs 'cause we will not let you back in without them!", brüllt der Türsteher. Im Durchgang hängen Plakate mit großen Photos der Besetzungen von Measure for Measure und The Seagull und ein Hinweis, diese seien käuflich zu erwerben. Eine kleine Marketingpanne; es gibt keine Plakate zu kaufen. Dafür bekommt jeder das Programmheft. Das Amphitheater mit seinen rund 1900 Plätzen ist überschaubar und wirkt sehr "skandinavisch" durch das helle Holz. Auch die Bühne ist aus Holz und sofort fallen die "russischen Birken" und Sorins Landhausattrappe ins Auge. All das sieht ziemlich genau so aus, wie auf den Photos, die in der Woche vor meiner Abreise auf NP.com und anderswo aufgetaucht sind. Wir sitzen direkt in der Mitte auf halber Höhe, hinter den VIP-Plätzen. Die Berichte scheinen Recht zu haben, daß stand-by tickets gute Plätze bieten, weil sie von Großsponsoren stammen, deren Angestellte oder Mitglieder sie aus unerfindlichen Gründen für den Abend nicht in Anspruch genommen haben. Mit dem Opernsänger links und der schwarzen Lady zu meiner Rechten gebe ich mich der traumhaften Atmosphäre hin. Würde der Blick aus dem Halbrund auf die Bäume, den Steg und den Turtle Pond nicht an einem Hochhausturm auf der Upper East Side hängen bleiben, säßen wir tatsächlich auf Sorins Landgut. Eine Frauenstimme droht die Beschlagnahme von Karmeras an, sollte man beim Photographieren im Theater erwischt werden. Tatsächlich steht an jedem Block ein Angestellter im grünen Hemd und beobachtet die Menge. Wenig später warnt uns der Regisseur Mike Nichols in seiner tiefen, sonoren Stimme ("Ladies and gentlemen, on behalf of your safety...") vor gefährlichen Nebeneffekten der modernen Lautsprecheranlage, die aufgrund der verwendeten Induktionsströme tödliche Stromschläge bei dem auslösen kann, der sein Handy während der Vorstellung nicht abschaltet. Gelächter und Applaus! "Stellen Sie sich vor", fährt die Stimme fort, "sie befinden sich im Jahre 1895 auf einem russischen Landgut an einem See, direkt in der Einflugschneise von Smolensk Airport." Gelächter und Beifall! Der Flugverkehr von und nach JFK wird in der Tat mehrfach während der Aufführung zu hören sein, wobei dank der nicht weniger als perfekten Soundanlage nicht die Gefahr besteht, daß das Stück darunter leidet. Das Licht erlischt, dann erstrahlt die Bühne in goldgelber Abendstimmung und der erste Akt beginnt mit leiser Akkordeonmusik.

Marcia Gay Harden ist mit ihrem Dutt als Masha nicht wiederzuerkennen, wenn man sie von Photos kennt. Sie spielt die burschikose, versoffene und unglücklich in Konstantin verliebte Tochter des Gutsbesitzers Shamraev (John Goodman). Sie leidet virtuos und meistens laut. An ihrer Seite stolpert Stephen Spinella als Lehrer Medvedenko so professionell unbeholfen aus dem Gebüsch ins Set, daß er mich später für Momente an Stan Laurel erinnert. Masha leidet. Medvedenko leidet. In dem Stück wird keiner glücklich. Nachdem Masha dem Schulmeister klargemacht hat, daß er nie ihr Herz gewinnen wird, ist es Zeit für zwei, die mir extrem gut gefallen haben: Christopher Walken als Gutsbesitzer Sorin (Arkadinas Bruder) und Philip Seymour Hoffman als Arkadinas Sohn Konstantin betreten ebenfalls vom Steg aus die Bühne. Walken spricht Akzent, der in Besprechungen als Harlem-Slang bezeichnet wurde. Er steht als Sorin ganz und gar im Schatten seiner Schwester Arkadina (Meryl Streep) und weint nach 28 Jahren Dienst im Justizministerium seinen verpaßten Lebenschancen nach. Damit erntet er zwar weder bei der Familie noch bei dem abgeklärten Landarzt Dorn (ein supersouveräner Larry Pine) Mitleid, dafür aber einen Haufen Lacher. Konstantin: "Deine Haare und Dein Bart könnten einen Kamm und vielleicht sogar die Schere vertragen, meinst Du nicht?" - Sorin: "It is the tragedy of my life. I look like a bum!"

Philip Seymour Hoffmann sieht auf den ersten Blick zu alt aus für einen fünfundzwanzigjährigen Konstantin. Dieser Umstand verliert allerdings jegliche Bedeutung, sobald er anfängt zu zaubern. Er spielt das Muttersöhnchen, das zwischen Selbstverachtung und Überheblichkeit hin- und hergerissen, besinnungs- und bedingungslos in Nina verliebt ist und gleichermaßen ödipal wie erfolglos um Mamas Liebe bettelt und deren Liebhaber Trigorin (Kevin Kline) bekämpft, so authentisch, daß es keine Mühe kostet mitzuleiden. Dabei ist sein Konstantin keinesweg sympatischer, als das Skript erlaubt. Ein Kritiker schrieb sinngemäß: "Eines ist klar in Die Möwe: an Konstantin ist nichts Gutes." Er ist unerträglich als Mensch, kann nichts, erreicht nichts und ist völlig unfähig, das zu ändern. Je mehr er versucht, den Erfolg in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Kunst zu erzwingen, umso gründlicher scheitert er. Seiner Mutter ist er egal, wenn keine Last. Seine große Liebe, Nina (Natalie), entfernt sich von ihm, weil sie sich im Unterschied zu ihm verändert, und läßt ihn bereits im zweiten Akt in seinem Selbstmitleid und seiner Verzweiflung zurück. Daß ihm schlicht das Talent fehlt, echte Kunst zu produzieren, geschweige denn das Theater zu revolutionieren, gesteht er sich erst ein, als es zu spät ist. Das alles überzeugend auf die Bühne zu bringen, ist für Philip Seymour Hoffman scheinbar ein Klacks.

An diesem Abend werden wir Zeugen eines kleinen Malheurs. Konstantin rupft - die Zigarette locker im Mundwinkel - einer Blume die Blütenblätter aus, um seinem Onkel zu beweisen, daß seine Mama ihn nicht liebt: "She loves me, she loves me not, she loves me, she loves me not, she loves me." Oh, keine Blütenblätter mehr übrig! Er knickt stattdessen den Stengel und zerrupft den Rest ("she loves me NOT") und bricht nach einem an Sorin gewandten "see?" in Gelächter aus. Christopher Walken grinst. Nichts Weltbewegendes, aber der kurze Moment der Panik in den Augen von Philip Seymour Hoffman und wie er die Szene meistert, waren preisverdächtig.

Meryl Streep steckt mit ihrem Powerplay alle in die Tasche. Sie herrscht als dominante Mama nicht nur über Konstantin, sondern über die gesamte Bühne und das anwesende Ensemble, wann immer sie auftritt. Ihre Arkadina manipuliert und triumphiert in Perfektion, schlägt das vielbesprochene Rad in Pumps, daß einem die Spucke wegbleibt, explodiert scheinbar ohne jede Anstrengung und haut das Geschirr formvollendet vom Tisch, als sie Trigorins offensichtliches Interesse für Nina zur Sprache bringt und liefert sich dann mit ihm einen erotischen Ring- und Überredungskampf vor dem Sofa, daß mir allein vom Zuschauen heiß und kalt wird. Und sieht dabei blendend aus.

Kevin Kline spielt sich einfach nur selbst und nimmt sich dabei ganz zurück. Sein Trigorin kommt auf leisen Sohlen daher, wirkt sehr sympatisch und selbst sein Versuch, Nina die Sache mit dem Ruhm auszureden, fällt grundehrlich aus. Er schaut im Grunde wie das Publikum dabei zu, wie Nina ihm verfällt, bzw. dem von ihm verkörperten Bild vom erfolgreichen Künstler. Er braucht sie am Ende des dritten Aktes nur noch zu pflücken wie reifes, süßes Obst.

Natalies Auftritt kündigt sich durch Hufgetrappel an. Im Damensattel kommt sie die kurze Rampe hinter den Bäumen hochgetrabt. Yakov (Meryl Streeps Sohn Henry Gummer) hilft ihr vom Pferd, und sie fliegt in Konstantins Arme. Außer Atem und mit leicht geröteten Wangen: "I'm not late - tell me I'm not late." Bei ihrem Anblick im klassischen Rock und weißer Bluse und mit dem langen falschen Zopf kommen mir die Worte frisch und edel in den Sinn. Auch ohne Opernglas sind ihr Gesicht und ihr markantes Profil gut zu erkennen. Neben den andern auf der Bühne fällt auf, wie klein und unglaublich zierlich sie wirklich ist und die irgendwo gelesene Beschreibung, ihr Kopf wirke - wie bei allen großen Schauspielern - im Vergleich zum Rest sehr groß, paßt. Von da ab muß ich mich zwingen, mich nicht zu kneifen, weil die Szenerie so unwirklich erscheint, als hätte sich auf der toll beleuchteten Bühne ein Traum materialisiert. Vor wenigen Stunden bin ich zuhause aufgewacht, hab mich ins Auto, dann in den Flieger gesetzt, und jetzt sehe ich das hier auf der andern Seite des Erdballs in der magischen Atmosphäre des Central Park live. Unglaublich!

Für das Stück im Stück zieht Natalie/Nina sich auf offener Bühne um. Wir sehen sie im Trägerhemdchen, Reiterhosen und in Schnürstiefeln. Ihre Manierismen, die leicht hektische und unbeholfene Art mancher Bewegungen sind so vertraut aus den Filmen. Nina erkennt, daß Kostyas Stück nichts taugt, spielt ihre Rolle und spricht die lächerlichen Zeilen mit den sinnlosen Wortwiederholungen aber dennoch mit heiligem Ernst, in Natalies wunderschöner Stimme: "...There is nothing but the cold - the cold, cold emptiness - emptiness and more emptiness - terrible it is - terrible - it is terrible..." Ihre Nina ist naiv aber nicht dumm, und sie ist gewissenhaft und man merkt jetzt schon, daß sie ein Ziel hat. Natalie bringt Ninas Liebe zur Schauspielerei perfekt auf die Bühne; genauso später ihr Befremden über Konstantins Verhalten nach der gescheiterten Aufführung. In diesen Szenen gelingt es für lange Momente zu vergessen, daß Natalie Nina nur spielt. Die Theaterszene ist gleichzeitig urkomisch und Natalie erntet Lacher, ohne eine Miene zu verziehen. Im gesamten ersten und zweiten Akt gefällt sie mir ausgesprochen gut. Sie trägt die Rolle des unverdorbenen Mädchens natlos, das unter lauter abgeklärten und verkorksten Erwachsenen träumerisch vom Schauspielerdasein schwärmt. Dazu gehören die wiederholten Ausbrüche in nervöses Gegiggel, Kichern und Lachen, die ich weder gekünstelt noch übertrieben finde, sondern sehr passend und davon abgesehen herzallerliebst. Immerhin soll dem Zuschauer im Laufe des Abends Ninas Veränderung drastisch vor Augen geführt werden und es schadet nichts, wenn die Beschreibung des jeweiligen Zustandes deutlich ausfällt. Arkadinas Gesicht spricht jedenfalls Bände, wann immer sich das Gör zu Wort meldet; "blöde, alberne Gans!" scheint sie zu denken. Ich bin einfach nur hin und weg, lausche Natalies Stimme und versuche, keine Sekunde zu verpassen, wenn sie wie ein Gummiball ausgelassen über die Bühne springt, schüchtern Sorins Applaus entgegennimmt, noch schüchterner vor Trigorin tänzelt, auf der Schaukel das Kleid fliegen läßt, oder sich entspannt in der Hängematte räkelt. Natalie und Nina sind eins. Meine Müdigkeit spüre ich nicht mehr.

In der Pause zwischen dem zweiten und dritte Akt lasse ich den Blick schweifen und entdecke ziemlich weit rechts, in der Nähe von Sorins Landhaus Jutze in den Rängen stehen, also gehe ich rüber und stelle mich vor. Er scheint etwas überrascht, mich jetzt schon zu sehen. Ich kann's ja selbst kaum glauben. Scarlet kommt hinzu; er hat einen Strauß Blumen dabei. Hat der heute noch was vor? Jutze und ich verabreden uns vor dem Theater, und ich höre, daß AvE nicht mit dabei ist, weil Scarlet nur ein Extraticket, und das nur wegen eines ausfallenden Freundes, übrig hatte. Auf dem nicht so weiten Weg zurück auf meinen Platz verlaufe ich mich und frage das streng guckende schwarze Mädchen im grünen Staff-T-Shirt, das die Mitte bewacht, "Excuse me, section J?" - "What?" - "I mean, would you please tell me where to find section J?" - "Oh, sure, it's up there. I thought you called me Jane!" - "Oh, no, I wouldn't dare!"

Der dritte Akt sieht nicht viel von Ninatalie, bis zum grandiosen Schluß. Kevin Kline beugt sich zu ihr hinunter, preßt seine Lippen auf ihre, umschlingt sie mit einem Arm und hebt sie im Kuß einfach hoch. Er läßt es sich nicht nehmen, ihr kurz an das Gesäß zu fassen, bevor er sie auf wacklige Beine zurückstellt. Nach dieser Szene kommt mir die Diskussion über den Altersunterschied zwischen Leonardo DiCaprio und Natalie im Zusammenhang mit den Besetzungsproben zu Romeo & Julia sehr überholt vor.

Ninas Wiederkehr zwei Jahre später im vierten Akt spielt im Winter und sie betritt verhüllt in Tücher die Bühne. Stark zitternd legt sie am Kachelofen ab, und leider will das Zittern nicht aufhören, bis sie Konstantin gegenübersitzt. Ihre Haare sind jetzt kürzer, eine schulterlange, naturkrause Mähne, an den Seiten hinter die Ohren gestreift. Natalie sieht aus, wie das nette israelische Mädchen von nebenan, nur süßer. Die Zweierszenen sind die stärksten in dieser Inszenierung, weil ohne die Ablenkung durch viele Akteure (kann eine Bühne zuviele Stars auf einmal haben?) fast Intimität aufkommt und man die Chance hat, in die Handlung hineingezogen zu werden und alles drumherum zu vergessen. Arkadina hat mit Trigorin und mit Konstantin solche intensiven Szenen, genauso wie Nina mit Trigorin am Ende des zweiten Akts. Der Schlußszene zwischen Nina und Konstantin fehlt im Vergleich ein wenig dieser Magie. Konstantin leidet wie ein Tier und Natalie spielt nicht seelenlos, allerdings hakt nach meinem Gefühl irgendetwas im Timing zwischen den beiden und Nina wirkt ein wenig zu fahrig und zu wenig verzweifelt. Das wäre mir nicht aufgefallen, hätte ich die gleiche Szene nicht am Freitag anders gesehen.

Ansonsten sind noch ein absolut burlesker und witziger John Goodman als Shamraev zu erwähnen und eine grundsolide Debra Monk als seine Frau Polina.

Der Schlußapplaus verwandelt sich in stehende Ovationen, dauert jedoch nicht lange, was daran liegt, daß die Schauspieler nach ihrer Verbeugung recht schnell abtreten. Natalie blickt etwas geschafft ins Publikum. Sie lächelt nur leicht. Morgen hat sie endlich ihren freien Tag.

Jutze treffe ich vor dem Theater. Eigentlich hatte er sich mit AvE hier verabredet, aber der hatte - wie wir später erfahren - das Stück vom Steg am Turtle Pond aus verfolgt und sieht später noch den einen oder anderen Künstler das Theater verlassen, während wir in Richtung Broadway laufen, Jutze zur U-Bahn und ich in mein Hotel. Ich kann's nicht fassen, daß ich an meinem ersten Abend bereits Die Möwe gesehen habe!




© 2001-2006 , Alle Rechte vorbehalten.
Übersicht | Sonntag | Montag | Dienstag | Mittwoch | Donnerstag | Freitag | Samstag | Sonntag